sE NEOM - Aufnahme-Chamäleon und Klassenprimus?
sE NEOM - Klassenprimus?
Das NEOM USB ist der neueste Streich des chinesischen Mikrofon-Spezialisten sE Electronics und ergänzt das Angebot an Kondensatormikrofonen. Bei der Konzeption des USB-Mikrofons legten die Entwickler höchstes Ohren- und Augenmerk auf besonders hohen Komfort: Plug & Play mit Windows- und Apple Rechnern sowie mobilen iOS- und Android-Endgeräten heißt die Devise. Auf dass Podcaster, Streamer, Content Creator sowie Musiker schnellstmöglich, zu allen denkbaren Zeiten und den verschiedensten Winkeln auf Erden – und vielleicht auch im All – zu guten Aufnahmen kommen. Damit aber nicht genug. Gleichzeitig haben die Entwickler Elemente der professionellen Audiotechnik in das Mikrofon eingebaut: So entspreche das Benutzer-Interface laut sE Electronics Produktspezialist Thomas Stupics einem reduzierten, völlig intuitiv bedienbaren Channelstrip. Selbstbewusst bezeichnet sE Electronics sein NEOM USB auch deswegen als „professionelles USB-Mikrofon“ und hat, wie wir bald sehen werden, in puncto Ausstattung auch keine halben Sachen gemacht. Damit ist es auch für Profis anziehend – und gehört mit einem Preis von rund 200 Euro noch zu den kostengünstigen Mikrofonen. Das macht es wiederum für potentielle Anwender mit schmalerem Geldbeutel attraktiv.
Alt-Bewährtes und Neu-Erfundenes
USB-Mikrofone sind bekanntlich eine clevere Kombination aus analogem Mikrofon und USB-Audiointerface, weswegen die üblichen Peripherie-Geräte – Preamp und Wandler – fürs Aufnehmen nicht vonnöten sind. Inzwischen sind diese besonderen Schallwandler so ausgereift, dass sorgfältig konstruierte und gefertigte Vertreter auch gehobenen Ansprüchen genügen können. Dazu bedarf es zuallererst eines hochwertigen analogen Mikrofons, welches für die erste Wandlungsstufe zuständig ist. Wegen ihrer grundsätzlich überlegenen Auflösung und des deutlich besseren Impulsverhaltens sind Kondensatormikrofone der Welt-Standard für hochwertige Aufnahmen. Folgerichtig ist die Kapsel in einem guten USB-Mikrofon, das immerhin natürlich klingende, detailreiche (Sprach-)Aufnahmen ermöglichen soll, in Kondensatortechnik gebaut.
Das NEOM USB macht selbstverständlich keine Ausnahme. Der Hersteller setzt bei der NEOM-Kapsel auf Bewährtes aus eigener Produktion: Die Kapsel basiert auf der des beliebten Einsteigermikrofons X1 A von sE Electronics. Allerdings ist die Kapsel überarbeitet worden und hat gegenüber der des X1 A einen klanglichen Zugewinn zu verbuchen. Wir haben es jedenfalls mit einem „dauerpolarisierten Mikrofon“ zu tun. Um etwaige Verwirrungen gar nicht erst aufkommen zu lassen, sei direkt verraten, was der Kapsel wahrer Kern ist: Es handelt sich um ein Elektret-Kondensatormikrofon, bei dem die für den Betrieb notwendige Polarisationsspannung für den Kapselkondensator nicht extern zugeführt werden muss. Im Falle des NEOM – wie auch seines Geschwister X1 A – ist die Gegenelektrode mit dem Elektretmaterial beschichtet. Es handelt sich also um ein Back-Elektret-Mikrofon, abgeleitet von „back plate“, der englischen Bezeichnung für die Gegenelektrode.
Diese Bauweise ist heute längst Standard, die Konstruktionen aus den Anfangstagen der Elektretmikrofontechnik sind glücklicherweise schon lange überholt. Denn die Bauweise mit Elektret-Membranen ließ die alten Elektrets einen verfrühten Kapseltod sterben, was so gar nicht in unsere zwar schnelllebige, gleichwohl besonders langlebige Zeit passt. Noch nicht ganz überholt sind indes die alten Vorurteile gegen Elektret-Mikrofone. Die werden immer noch gerne den extern polarisierten Kondensatormikrofonen als klanglich unterlegen angesehen. Ausweislich unserer Erfahrungen mit sorgfältig gefertigten Elektret-Mikrofonen, die definitiv in der Spitzenklasse mitspielen, handelt es sich dabei zumeist um Halbgares aus der Tontechnik-Gerüchteküche. Der Erfolg des X1 A beispielsweise belegt, was diese Kapselbauweise drauf hat. Also: Keine unnötige Panik.
Die Kapsel selbst hat einen Durchmesser von nur 16 Millimetern. Wir haben es also nicht mit einer Ein-Zoll-Kapsel zu tun, weswegen es sich beim NEOM USB eher um ein Mittelmembran-, als um ein Großmembran-Mikrofon handelt. Ein Nachteil ist damit erst einmal nicht verbunden. Im Gegenteil: Die für Großmembran-Mikrofone typische Höhenanhebung aufgrund Druckstaus kann so weitaus moderater ausfallen, sodass der Frequenzgang des NEOM USB im Höhenbereich ebener ausfallen könnte, was sich durchaus zugunsten eines sanfteren Klangs auswirken mag. Auch in puncto Impulsverhalten könnte das Mikrofon punkten. Immerhin ist weniger Masse zu bewegen. Die endgültige Klangwahrheit ergründen wir im finalen Praxistest.
Es ist nur konsequent, dass das Mikrofon eine nierenförmige Richtcharakteristik hat. Denn gerade der rasende Podcaster, der häufiger in quicklebendiger Umgebung aufnimmt, ist heilfroh, wenn sich sein Mikrofon auf die Aufzeichnung der Schallquelle fokussiert und die umgebenden Störgeräusche so wenig wie möglich wahrnimmt. Damit der Aufnahme weiteres Unbill in Form von Griff- und Hantierungsgeräuschen bestmöglich erspart bleibt, ist die Nierenkapsel zudem elastisch gelagert. Weswegen sE Electronics auf eine zusätzliche elastische Halterung gleich verzichtet hat. Stattdessen befindet sich im Lieferumfang ein Tischstativ aus schwerem Metall. Das Mikrofon ist mittels der Klemme, die auch eine Montage am Mikrofon-Ständer leichterdings ermöglicht, geschwind am Tisch-Stativ befestigt – und steht direkt im perfekten Neigungswinkel vor dem Sprecher. Wirklich klasse, weil so wunderbar unkompliziert.
Geschwind in den Rechner
Das eingebaute Audiointerface des NEOM USB ermöglicht Aufnahmen in Windeseile – denn es ist auf einfachste Handhabung hin entwickelt. Es verfügt über eine USB 2.0-Schnittstelle, die Verbindung zum Rechner oder dem mobilen Endgerät geschieht via USB-C-Stecker und/oder den entsprechenden Adaptern. Zum Betrieb ist keine Treiberinstallation erforderlich. Wir haben es also mit echtem Plug & Play zu tun. Darüber freuen sich vor allem die Windows-User, während die Mac-Adepten ohnehin nichts anderes als „class compliance“ erwarten. Dennoch denken die sE-Entwickler an alles und haben einen dezidierten ASIO-Treiber im Angebot, den Windows 10/11-User nicht auslassen sollten. Dank erweiterter Einstellmöglichkeiten, eines virtuellen Mixers und virtueller Kanäle lässt sich das Potenzial des Mikrofons bestmöglich nutzen. Denn über das Control Panel lässt sich die Puffergröße einstellen und somit die Latenz beeinflussen. So gibt es eine clevere Einstelloption namens „Streaming/Gaming Mode“, die als zusätzlicher Puffer bei sehr anspruchsvollen Anwendungen einen stabilen Betrieb gewährleistet. Wer das NEOM USB stattdessen bevorzugt für Audio-Anwendungen mit den gängigen Programmen wie Cubase, WaveLab, Reaper und anderen verwenden möchte, deaktiviert den Puffer und kommt in den Genuss besonders geringerer Latenzen. Den Treiber gibt’s zum Download unter https://www.seelectronics.com/neom-usb. Sogar einen ASIO-Treiber für die Gestrigen unter den Windows-Nutzern, nämlich für die Betriebssysteme 7, 8 und 8.1 ist im Angebot.
Die Maximalauflösung des Interfaces beträgt üppige 24Bit/192kHz, was heutzutage allerdings nicht mehr beeindruckt und über die Klangqualität erst mal nicht viel aussagt. Weitaus wichtiger ist die Ausstattung des NEOM mit einer eigenen Monitoring-Sektion. Auf der Rückseite findet sich nämlich eine 3,5-mm-Kopfhörerbuchse, sodass der Benutzer seinen Monitoring-Hörer direkt anschließen kann. Es bedarf mithin keines Zusatzgeräts oder des Kopfhörerausgangs des Rechners oder sonstigen Endgeräts, was die leidigen Latenzen a priori minimiert.
Der Hersteller spricht sehr selbstsicher von der geringsten Latenz in dieser Geräteklasse. Da das Signal beim Direkt-Monitoring nicht den verzögernden Umweg über den Rechner gehen muss, sind Latenzen in der Tat kein Thema. Das ist sicherlich kein exklusiver Zaubertrick – gerade günstige Audiointerfaces greifen darauf auch zurück –, aber, und das zählt, eine sehr effektive Lösung.
Geht es ums Einsprechen, Einsingen oder Einspielen einer Stimme zum vorhandenen Playback, bringt das NEOM USB alles für einen praxisgerechten Monitor-Mix mit. Zwei Drehregler, „Mic Level“, zuständig für die Lautstärke des Mikrofonsignals, und „Playback Level“, der das Zuspiel-Signal regelt, ermöglichen eine intuitive Abstimmung. Neueinsteiger finden praktische Einstelltipps in der sehr guten, damit wirklich nützlichen, beiliegenden Bedienungsanleitung.
Die Mikrofonverstärkung ist über den im Vergleich zu den Monitoring-Reglern deutlich größeren „Mic Gain“-Regler einzustellen. Der Einstellbereich ist bemerkenswert weit – die Skala reicht bis zur „Spinal Tap“-Elf – und das Mikrofon per se recht empfindlich. Deswegen bedarf es einigen Fingerspitzengefühls beim Einpegeln. Eine große Hilfe ist der LED-Ring um den Regler. Solange der in augenschmeichelndem Grün leuchtet, ist alles in Butter. Wechselt die Anzeige zu Rot, sind Verzerrungen fast programmiert, weswegen diese Farbe bestenfalls nie sichtbar wird. Thomas Stupics ergänzt: „Die Erfassung ist samplegenau und mit Haltefunktion. Sobald auch nur ein Sample übersteuert, springt die rote LED an und bleibt sicherheitshalber für mehrere 100 Millisekunden sichtbar. So kann der Anwender auch bei Livestreams, wo selten die Signalqualität penibel überwacht wird, kaum was übersehen.“
Sogar an eine Stummschaltung haben die Schöpfer des NEOM USB gedacht: Die ist mit einem Druck auf das sE Logo zu aktivieren. Ist das Mikrofonsignal stummgeschaltet, blinkt das Logo, sodass der Anwender nie im Dunkeln tappt und sich nicht wundern muss, wenn kein Ton im Computer ankommt. Dass auch bei gemutetem Ausgangssignal das Mikrofon weiterhin nachjustierbar ist, sei ergänzend angemerkt.
Die Drehregler sind auf dem Niveau der Gesamtverarbeitung, die insgesamt sehr gut ist. Dieses Mikrofon ist einfach sein Geld wert. Es macht tatsächlich einen wertigen, wenn man so will, teureren Eindruck. Mit einem solchen Schallwandler arbeitet es sich besonders gerne. Was wir dann auch sogleich tun wollen.
Klanglich alles im Grünen
Für den Praxistest muss das NEOM USB für Sprach- und Instrumentenaufnahmen ran. Dabei erstellen wir einmal Videos mit Hilfe des Photo-Booth-Programms von Apple – Stichwort Content Creation für soziale Medien – und vertrauen die Aufzeichnung der Tonspurvollständig dem USB Mikrofon an. Zusätzlich nehmen wir noch einige Spuren im Studio unter Logic Pro auf.
Dank der sehr guten Pegelanzeige des Mikrofons ist der richtige Aufnahmepegel für die Videos sehr viel einfacher und zuverlässiger gefunden als über die bordeigene Anzeige des MacBooks. Sämtliche Sprachaufnahmen überzeugen spontan mit ihrem klaren Klang bei bemerkenswert guter Sprachverständlichkeit. Sibilanten kommen ohne enervierende Schärfe, wenngleich eine gewisse Höhenanhebung unverkennbar ist. Im Vergleich zu anderen kostengünstigen Mikrofonen, die in dieser Disziplin gerne viel zu viel des Erträglichen tun, erweist sich das NEOM USB als angenehm zurückhaltend. Die Auflösung ist fraglos auf Mittelklasse-Niveau und kann auch verwöhnte Mikrofontester-Ohren überzeugen. Der Nahheitseffekt ist durchschnittlich ausgeprägt, weswegen ein Abstand von mindestens 20 Zentimetern zum Einsprechkorb empfehlenswert ist – es sei denn, ihr möchtet den Nahbesprechungseffekt kreativ nutzen.
Das Impulsverhalten der Mittelmembran-Kapsel ist richtig gut: Plosivlauten folgt das Mikrofon aufs Aussprechen. Wir wollen es aber noch genauer wissen und nehmen deswegen noch zwei Stücke mit einer hochwertigen Flight A10 X-Tenorukulele auf. Dieses vollmassive Instrument klingt eher wie eine Konzertgitarre en miniature, verbindet konzertante Tiefe und Klangfülle mit einer sehr schnellen Ansprache.
Das NEOM USB fängt den Klang des Instruments gut ein, unterschlägt keine Klangfarben und lässt sich auch nicht von schnellen Läufen abhängen. Die Aufnahmen klingen lediglich ein Quäntchen zu präsent für unseren Geschmack. Das ist aber der tendenziell helleren Abstimmung des Mikrofons geschuldet und mithin kein Fehler, sondern eine Entscheidung der Mikrofondesigner. Für Sprache – und Gesang – passt das Mikrofon so sehr gut. Für die Aufnahme von Instrumenten würden wir ohnehin Kleinmembranen bevorzugen. Da das NEOM USB für unsere Ohren sehr gefällig tönende Ukulelen- Aufnahmen ermöglicht hat, kann das objektive Urteil nur lauten: Dieses USB-Mikrofon versteht sein schallwandlerisches Handwerk und erweist sich unterm Strich wirklich als Aufnahme-Chamäleon.
Fazit
Das NEOM USB von sE Electronics ist ein richtig gutes USB-Mikrofon. Es ist robust, praxisgerecht ausgestattet und einfach zu handhaben. Vor allem überzeugt es mit seinem Klang, der fraglos auf solidem Mittelklasse-Niveau ist und deswegen auch im Studio eine richtig gute Figur macht.
Redaktion und Fotos: Harald Wittig, Professional Audio Mai 2022
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