Studio-Träume

TESTBERICHT - sE Electronics Rupert Neve RNT

Wie die meisten von euch sicher wissen, ist das Röhrenmikrofon nicht das erste Ergebnis der langjährigen Zusammenarbeit von Mr. Rupert Neve und der Entwicklungsabteilung des namhaften Audioherstellers sE Electronics. Nach dem aktiven Bändchen-Mikrofon RNR1 und dem Kleinmembran-Kondensator-Mikrofon RN17 überrascht uns Rupert Neve nach ca. 10 Jahren der Entwicklung pünktlich zu seinem 92. Geburtstag mit dem RNT Röhren-Großmembran-Mikrofon, der Königsdisziplin unter den Studio-Mikrofonen. In unserem Praxistest haben wir das RNT-Mikrofon mit der Seriennummer 51 für euch genau unter die Lupe genommen. Was dieses Mikrofon so besonders macht und mit welchen Features es aufwarten kann, haben wir für euch in unserem ausführlichen Testbericht zusammengefasst.


Kein Marketing-Trick

Angeliefert wird unser Testkandidat in einem großen, farbig bedruckten Karton, der durch seine aufschlussreichen Schnittzeichnungen sogar etwas vom interessanten Innenleben des RNT-Mikrofons verrät. Ihm entnehmen wir einen gleichgroßen, schwarzen Aluminium-Koffer, der bezüglich Aufmachung und Stabilität einem typischen, road-tauglichen Flightcase ähnelt. Die Verarbeitung ist bei diesem Behältnis makellos und vermittelt bereits den Eindruck, dass es eine edle Fracht beinhaltet. Nach dem Öffnen des Deckels mussten wir zugeben, dass die Größe des Koffers kein Marketing-Trick ist, sondern bei der Menge und Größe des Inhalts absolut angemessen erscheint. Das Zentrum des mit Schaumstoff ausgekleideten Koffers bildet ein sauber verarbeitetes Holzkästchen mit hochwertiger Maserung, dessen Deckel von einem versteckt eingearbeiteten Magnetverschluss gehalten wird. Der Innenraum des Holzkästchens ist mit einem dunkelgrauen Schaumstoffbett ausgestattet, in dem das 24 Zentimeter lange RNT-Mikrofon ruht. Da die meisten Phantomspeisungen von Mischpulten oder Mikrofon-Vorverstärkern nicht für die hohen Lasten ausgelegt sind, wie sie zum Betrieb eines Röhrenmikrofons notwendig sind, hat Mr. Rupert Neve beim RNT-Mikrofon nichts dem Zufall überlassen: In einem massiven, grauen Stahlblechgehäuse, das sicher schadlos von einem Panzer überrollt werden könnte, sind sowohl das geschirmte Netzteil zur Stromversorgung, als auch ein kompletter Neve Mikrofon-Preamp mit Steuerung der Mem- bran-Charakteristik untergebracht. Im linken, oberen Eck des Transportkoffers finden wir die stilistisch zum Mikrofon passende Aufhängung, die auf jedes Standard-Mikrofon-Stativ montiert werden kann. Bei der Länge des Galgens sollte man daran denken, dass das Mikrofon mit seinem Gewicht von knapp einem Kilogramm ungefähr doppelt so schwer ist, wie ein übliches Großmembran-Kondensator-Mikrofon und daher eine gewisse Hebelwirkung hat. Bei unserem Test-Setup haben wir daher den Galgen mit einem Notenpult etwas gestützt, um ein Kippen zu vermeiden.



Lieferumfang

Das Kaltgeräte-Netzkabel zum Anschluss an die Stromversorgung und das ca. fünf Meter lange, achtpolige Verbindungskabel zwischen Mikrofon und Bodengerät gehören natürlich ebenfalls zum Lieferumfang und sind im linken, unteren Eck des Transportkoffers untergebracht. Es ist wirklich erfreulich, dass bei diesem Mikrofon sogar die Spinne im Lieferumfang enthalten ist, die meist bei anderen Herstellern als Zubehör extra bezahlt werden muss. Zu bewundern ist auch der Mut von sE Electronics, ein komplett neues Mikrofon-Konzept zusammen mit Rupert Neve zu entwickeln und dem Projekt in unserer schnelllebigen Zeit ganze 10 Jahre zur Reife zu gewähren. Wer die Produkte von dem gebürtigen Engländer Rupert Neve kennt, der weiß, dass diese ohne Ausnahme im High-End-Bereich der Studiotechnik zu finden sind. Das RNT-Röhrenmikrofon von sE-Electronics ist ebenfalls dort anzusiedeln, wie der Preis von 2.999,- EUR deutlich zu erkennen lässt.

Mic mit Röhrentechnik
Das RNT-Konzept arbeitet mit den beiden Komponenten Mikrofon und Bodenstation, wobei es eine klare Aufgabentrennung gibt. Das 240 mm lange, zylindrische Mikrofon hat einen Durchmesser von 62 mm und erinnert durch seine schlichte Form und Größe an die Röhrenmikrofon-Legende Neumann U47. Der Mikrofonkorb besteht aus einem V-förmig geschwungenen, silbernen Drahtgeflecht, das zum zusätzlichen Schutz der Kapsel durch einen Gehäuse-Rahmen gestützt wird. Der Kapselkopf ist optisch durch eine dezente Kerbe im anthrazit-farbig beschichteten Metall-Body abgesetzt. Die Vorderseite des Mikrofons kennzeichnen ein schwarz-silbernes SE-Logo und die blaue Signatur von Sir Rupert Neve. Auf der Rückseite ist ein geschlitztes Blech mit vier Schrauben befestigt, das mit einem silbernen, feinen Metallgewebe hinterfüttert ist, durch das bei Dunkelheit das Glimmen der handselektierten 12AU7/ECC82-Röhre zu sehen ist. Darunter befindet sich, unter der blauen Signatur von SE-Chef Siwei Zou, die Plakette mit der eingeprägten Seriennummer. sE Electronics verwendet nach eigenen Angaben sowohl für das Mikrofon, als auch für die Bodenstation, ausschließlich hoch selektierte, rauscharme Bauteile in der Class-A-Elektronik. Vor allem aber machen die beiden Original-Neve-Übertrager im Mikrofon und in der Bodenstation einen wichtigen Anteil am Gesamtsound aus. Die hohe Schalldruckverträglichkeit der Kapsel von 151 dB SPL sowie die neunstufig umschaltbare Charakteristik von Kugel über Niere zur 8 machen das Mikrofon im Studio-Alltag universell einsetzbar. Auch der Aktionsradius des fünf Meter langen, achtpoligen Anschlusskabels zur Bodenstation ist großzügig bemessen und sorgt für eine optimale Verbindung zwischen Mikrofon und Vorverstärker.



Neve-5088-Preamp an Bord

Die Bodenstation mit fast vier Kilogramm ist recht schwer. Grund dafür ist ein überaus massives Metallgehäuse. Die obere Schale bildet den Deckel und die Seitenwände und ist aus gut 3 mm starkem Stahlblech, das in grau-grüner Hammerschlagoptik beschichtet ist. Auf der Oberseite befindet sich ein Tragegriff. Die Bedienfront besteht aus mattiertem, edel wirkendem Aluminium. Der Drehschalter zur Wahl der Charakteristik ist im selben matten Rot gehalten, wie wir es von den Geräten aus dem Hause „Rupert Neve Designs“ kennen. Links daneben finden wir zwei Kippschalter für den Low-Cut-Filter (linear, 40 Hz, 80 Hz) und die Gain-Justierung (−12 dB, 0 dB, +12 dB). Die RNT-Bodenstation beinhaltet zum einen das doppelt abgeschirmte Netzteil, welches auch das Mikrofon mit dem benötigten Strom für den Betrieb des Röhrenvorverstärkers versorgt und zum anderen den Mikrofon-Vorverstärker. Die Operationsverstärker tragen die Bezeichnung 5088 – ein Kürzel, welches auch in Rupert Neve‘s Analogkonsole 5088 und den abgeleiteten Produkten, wie dem RND 5060 Centerpiece oder dem RND 5059 Satellite, verwendet wird, weil auch in diesen Geräten die mit ±36 Volt versorgten OP-Amps massiv eingesetzt werden. Wer also bisher aus
Budget-Gründen auf den begehrten Neve-Analog-Sound verzichten musste, bekommt ihn jetzt mit dem RNT-Röhrenmikrofon zu einem relativ günstigen Preis.

Hohe Flexibilität
Für unser Test-Setup haben wir den XLR-Ausgang der Bodenstation direkt mit dem Eingang unseres SPL Channel One Preamps verbunden, dessen EQ ausgeschaltet war. Der Ausgang des Preamps ging dann direkt in unser MOTU 24 I/O, welches die Analog/Digital-Wandlung des Mikrofon-Signals übernahm. Als DAW setzen wir Cubase 10 ein und speichern das digitale Signal absichtlich nur in CD-Qualität (44.1 Sample Rate), jedoch mit 24 Bit Auflösung. Als Abhöre setzen wir auf unsere Mackie XR824 Professional Studio Monitore mit einem Frequenzgang von 36 Hz bis 22 kHz. Um das Mikrofon unter realen Bedingungen testen zu können, baten wir die Sänger/Sprecher von vorherigen Produktionen nochmals ins Studio und ließen sie die Vocals, die wir vorher mit einem Neumann TLM103 aufgenommen hatten, nochmals mit dem RNT-Röhrenmikrofon einsingen. Auf diese Weise hatten wir auch die direkte Vergleichsmöglichkeit zu einem „normalen“ Großmembran-Kondensator-Mikrofon, das für seinen linearen Frequenzgang bekannt ist. Bereits bei den Testspuren, die wir mit unterschiedlichen Charakteristik-Einstellungen aufnahmen, zeigte sich, dass die Einstellungen zwischen Niere und 8 am besten klingen. Das Audio-Signal klang sehr offen, detailreich und erstaunlich linear bzw. natürlich. Bei einem Wechsel der „Gain“-Einstellung zeigte sich, dass das Signal bei der +12 dB-Einstellung etwas wärmer klang, als mit der neutralen 0 dB-Einstellung. Erstaunlich war das klanglich konstante, dynamische Verhalten, das auch bei hohen Lautstärken, dank des großen Headrooms von 151 dB SPL, absolut verzerrungsfrei blieb. Im Mix setzten sich die Vocals besser durch und klangen präsenter als vergleichsweise die Aufnahmen mit dem TLM103. Die erwartete warme Röhren-Färbung des Mikrofon-Signals durch Anhebung der unteren Mitten blieb jedoch aus. Stattdessen zeigte sich das RNT auch in den unteren Frequenzen sehr ehrlich und linear.

Fazit und Testergebnis
Das RNT-Röhren-Mikrofon ist der ideale Allrounder für anspruchsvolle Studio-Einsätze, gleich ob es sich um Aufnahmen von Vocals oder Instrumenten handelt. Die hohe Schalldruckfestigkeit von 151 dB SPL garantiert ein verzerrungsfreies Klangbild, das durch Gain- und Charakteristik-Einstellungen klanglich optimiert werden kann. Ein einstellbarer High-Pass-Filter sorgt für die Eliminierung von Trittschall oder anderen, extrem tiefen Frequenzen. Auch wenn das RNT-Mikrofon von sE Electronics in China handgefertigt wird, so trägt es doch überall die Handschrift von Rupert Neve. Die in Handarbeit montierten, absolut hochwertigen elektronischen Komponenten und das unbezahlbare Knowhow von Rupert Neve rechtfertigen diesen auf den ersten Blick relativ hohen Preis. Der echte Neve-Sound war noch nie so günstig!

Redaktion: Michael Henning, Soundcheck 10/2019




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